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Seltene Erkrankungen: Zum „Rare Disease Day 2023“

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Seltene Erkrankungen im Fokus: Der 28. Februar ist der „Tag der seltenen Erkrankungen“, oder auch „Rare Disease Day“. An diesem Tag wird von vielen politischen, gesellschaftlichen und medizinischen Trägern und Organisationen auf diese besondere Gruppe von Erkrankungen aufmerksam gemacht. Und die ist gar nicht so klein, wie der Name vermuten lässt.

Der Begriff „seltene Erkrankungen“ beschreibt Krankheiten, die weniger als einen von 2000 Menschen betreffen als unter 0,05 Prozent der Bevölkerung. Bei über 8.000 verschiedenen Krankheiten, auf die diese Beschreibung zutrifft, ist die Zahl der Betroffenen jedoch immer noch sehr groß. Etwa 3,5 bis 5,9 Prozent der Menschen leben weltweit mit einer solchen Diagnose. Allein in Deutschland gut 4 Millionen Menschen, weltweit sogar über 300 Millionen*. Die Forschung, Diagnose und Behandlung ist jedoch auch heute aufgrund ihrer Seltenheit immer noch sehr schwer. Für Betroffene ist daher nicht nur der medizinischen Umgang mit der Erkrankung herausfordernd. Vielen sieht man ihre Erkrankung im Alltag nicht oder nur wenig an, was mitunter zu „Ableismus“ führt.

Was „Ableismus“ ist und wie das Leben für Betroffene aussieht, erzählt uns Anna. Sie lebt seit Ende 2020 in unserem Wohnprojekt Festland – und hat hier ein neues bedarfsgerechtes Zuhause gefunden.

 

Anna, du lebst seit deiner Geburt mit einer chronischen Bindegewebserkrankung. Was genau ist deine Diagnose und wie beeinflusst es deinen Alltag?

Ich habe eine chronische seltene Erkrankung, die sich das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) nennt. Sie kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein, weil es 13 verschiedene Subtypen gibt. Einige Betroffene haben nur geringfügige Einschränkungen, während andere im täglichen Leben stark eingeschränkt sind. Das ist leider bei mir der Fall.

Das EDS ist ein Gendefekt, bei dem es zu einer Störung der Kollagensynthese kommt. Kollagen gibt den Körperteilen ihre Festigkeit. Laienhaft ausgedrückt ist das Gewebe im Körper nicht fest genug, sondern „ausgeleiert“, im Sinne von überdehnbar. Nicht selten werden wir daher auch als „Gummimenschen“ bezeichnet.

Bei mir führt diese Störung z.B. zu einer Lähmung des Magens, einer schweren Motilitätsstörung des Darms, hypermobilen Gelenken, überdehnbarer und sehr empfindlicher Haut, Osteoporose, Schmerzen und einer Blasenentleerungsstörung. Es ist nicht selten, dass Organe, wie Lunge oder Darm ohne Ursache, perforieren. Das ist mir leider auch schon passiert. 

Bei mir ist der Magen- und Darmtrakt am stärksten betroffen, was mein Leben sehr stark beeinträchtigt. Ich werde auf Dauer künstlich ernährt, habe daher mehrere Sonden am Bauch und einen zentralvenösen Katheter, der mich seit Jahren am Leben hält. Darüber erhalte ich Ernährung, lebenswichtige Medikamente und Flüssigkeit.

Macht es für Betroffene nach deinen Erfahrungen einen Unterschied, ob man mit einer Erkrankung geboren wurde, oder ob man sie erst im Laufe des Lebens bekommen hat?

Für mich macht das einen Unterschied, denn ich kann mich nicht daran erinnern, jemals gesund gewesen zu sein. Ich weiß nicht, wie es ist, schmerzfrei aufzuwachen, nicht schnell zu erschöpfen oder mich nicht vor anderen Menschen unter einem Berg an Kleidung verstecken zu müssen, weil man sonst ständig meine zu hagere Optik kommentiert hätte. Besonders als junger Mensch war sowas sehr schmerzhaft.

Ich konnte zwar Abitur und eine Ausbildung machen. Aber zuverlässig Hobbys oder später einen Job ausüben, mit Freunden ausgehen, am Sportunterricht teilnehmen, mit auf Klassenfahrt fahren … – das blieb mir alles verwehrt. Es klingt so lapidar, aber genau diese Erfahrungen wären so wertvoll für mich gewesen. Sie fehlen mir.

Meine Familie hat sich trotzdem sehr viel Mühe gegeben, mich zu integrieren und mir Alternativen zu bieten und mit mir Dinge zu unternehmen, die das wieder etwas gut machen. Aber ein Teil von mir hat trotzdem lange getrauert, dass ich das alles nicht so wie andere junge Menschen erleben durfte.

Seltene Erkrankungen im Alltag: Selbstbewusstsein und Ironie sind für Anna ein Mittel für dem Umgang

Annas Pullover passt zu ihrer Diagnose.

Andererseits bin ich so natürlich in meine Krankheit rein gewachsen und dadurch zur Expertin für meine eigene seltene Erkrankung geworden. Ich kenne meinen Körper und seine Grenzen sehr gut und dadurch weiß ich mir selbst auch am besten zu helfen und möglichst unabhängig zu bleiben. Und ich musste nicht diesen großen Verlust der „früheren. gesunden Lebens“ verkraften. Das erleben ja die Menschen, die plötzlich erkranken oder einen Unfall hatten.

Manchmal ist es schwer für mich zu realisieren, dass meine Krankheit fortschreitend verläuft und mit jedem Jahr immer schlimmer wird. Das macht mir Angst.

Rund 4 Millionen Menschen in Deutschland haben eine oder mehrere “seltene Erkrankungen” – das Phänomen ist also gar nicht so selten. Wird diesem alltäglichen Problem deiner Meinung nach genügend Aufmerksamkeit geschenkt? Wird für Betroffene genug getan und finden sie in unserem Gesundheitssystem die Hilfe, die sie benötigen?

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass wir im Gesundheitssystem immer noch untergehen. Viele Ärzte sind überfordert, wenn sie meine Diagnose hören. Oder sie sind irritiert, wenn man sich als junger Mensch mit so einer schwerwiegenden seltenen Erkrankung mit multiplen „Baustellen“ vorstellt. Nicht selten kennen Ärzte meine Erkrankung nicht mal.

Auch für die Ärzte ist es teilweise frustrierend. Denn ein Arzt wünscht sich natürlich auch, helfen zu können und zwar mit dem Ziel, dass es den Patienten irgendwann wieder gut geht. Auch wenn das für meine und andere seltene Erkrankungen nicht zutrifft, benötigen wir trotzdem Hilfe, Verständnis und Unterstützung.

Teil der Inklusion bei Hamburg Leuchtfeuer Festland: rollstuhlgerechte Aufzüge

Festland ist das barrierefreie Wohnprojekt von Hamburg Leuchtfeuer. Hier lebt bspw. auch Annas Nachbarin Katharina.

Mittlerweile wird aber zumindest probiert, seltene Erkrankungen mehr ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Es gibt deutschlandweit mittlerweile etwa 35 Zentren für seltene Erkrankungen, an die man sich wenden kann, und auch in den sozialen Medien werden immer mehr Informationen geteilt und auf uns aufmerksam gemacht. Als ich jünger war, kann ich mich an gar keine öffentliche Repräsentation erinnern. Wir waren so eine kleine Randgruppe innerhalb der chronisch Kranken, denen selten mal eine Plattform geboten wurde. Mittlerweile gibt es viele digitale Orte und Angebote, wo man auf viele Gleichgesinnte treffen, sich austauschen und etliche Informationen finden kann.

Viele chronische und seltene Erkrankungen sind für Außenstehende ja nicht auf den ersten Blick sichtbar. Manchmal wird Betroffenen ihre Erkrankung deshalb auch nicht geglaubt oder sie wird kleingeredet. Hast du Erfahrungen mit dieser Form von “Ableismus” gemacht? Was würdest du dir von der Gesellschaft in diesem Zusammenhang wünschen?

Damit habe ich schon unheimlich viele Erfahrungen im Laufe meines Lebens machen müssen. In dem Krankheitsstadium, in dem ich mich jetzt befinde, passiert mir das nicht mehr so häufig, aber vor ein paar Jahrzehnten, als ich noch jünger war und man mir die Krankheit in bestimmten Phasen noch nicht so ansehen konnte, ist mir das regelmäßig passiert und es hat mich innerlich immer sehr verletzt und traurig gemacht. Ich dachte mir dann immer: „Wenn die Menschen wüssten, mit welchen Problemen, Schmerzen und Leid ich täglich zu kämpfen habe, dann würden sie sowas sicherlich niemals sagen.“ Ich war mir absolut sicher, dass niemand mit mir hätte tauschen wollen, auch nicht für nur einen einzigen Tag!

Da das seelisch eine große Belastung darstellt, war ich froh, als ich irgendwann therapeutische Hilfe zur Krankheitsbewältigung bekam. Einerseits lernte ich dort, wie ich mehr für mich einstehen kann. Und andererseits wie ich mich von anderen Menschen besser abgrenzen kann, die meinen, mich ausnutzen zu müssen. Das war ein langer und harter Lernprozess und überhaupt nicht einfach, aber mit das Wertvollste, was ich in den letzten Jahren lernen musste.

Von der Gesellschaft würde ich mir mehr Toleranz und Offenheit in Bezug auf Krankheiten und Behinderungen wünschen, egal ob sichtbar oder unsichtbar und egal ob alt oder jung. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Ich kläre gerne auf und bin immer froh, wenn Menschen auf mich zukommen und mir freundlich Fragen stellen. 

Liebe Anna, wir danken dir für das Gespräch!


Mehr Informationen über unser Wohnprojekt Festland gibt es hier.

Wer mehr über seltene Erkrankungen und den „Rare Disease Day“ erfahren möchte, findet hier alle Infos.

* Quelle: rarediseaseday.org